Ambrose Bierce


Seine Eltern hatten fast ein Dutzend Kinder und gaben ihnen alle Namen, die mit "A" begannen.

 

Geboren am 24. Juni 1842 im US-amerikanischen Bundesstaat Ohio, gestorben vermutlich Weihnachten/Neujahr 1913/14 in Mexiko.

Eine scharfe Zunge hatte er und - eine spitze Feder. Beruf: Soldat und Satiriker, Menschenfeind und Dandy, Abenteurer und Journalist. Leichen, skurrile Existenzen, psychisch Leidende pflasterten seinen literarischen Weg, Verwegenheit und hochmütiger Spott, Tragik und tiefe Einsamkeit wurden zu Leitmotive seines Lebens. Ambrose Bierce war einer der schillerndsten Gestalten im literarischen Amerika des 19. Jahrhunderts - eine personifizierte Provokation, eine erfrischend-gehässige Zumutung in Poetengestalt. Kein Tabu war seinem Zynismus heilig, kein noch so sensibles Thema wurde ausgelassen. Ob es sich um Haupt- und Staatsaktionen handelte oder um die allgemeinen, die kleinen und großen Schwächen des Menschengeschlechts - sein Spott versiegte nie und traf fast immer ins Zentrum bürgerlicher Empfindlichkeit. Bierce war ein Grenzüberschreiter in mehrfacher Hinsicht: Die Grenzen des "guten" Geschmacks, der Pietät, des Anstands und - der eigenen Leidensfähigkeit - überwunden sollten sie werden und überwunden hat er sie - wenn auch um den Preis ungeteilter Anerkennung, literarischer Reputation und menschlicher Zuneigung. "The Bitter Bierce" nannten ihn schon die Zeitgenossen, die seine zynischen Attacken liebten und fürchteten. Und: Er machte diesem Namen alle Ehre. Berühmt wurde er mit seinem "Wörterbuch des Teufels", eine eigenwillige Sammlung bissiger Aphorismen und Epigramme, die Quersumme seiner Menschenverachtung, die Quintessenz seiner Resignation. Vor neunzig Jahren erschien "The Devil`s Dictionary" erstmals in Buchform.

Krieg dem Krieg
Bierce wird im Juni 1842 als zehntes von dreizehn Kinder auf einer Farm in Ohio geboren. Die erdrückende Enge eines sich rechtschaffen gebärdenden Puritanismus lässt ihn bereits mit fünfzehn Jahren die Familie fluchtartig verlassen, um sich als Druckerlehrling zu verdingen. Bald danach besucht er das Militärinstitut in Kentucky. Im amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 kämpft er auf der Seite der Union gegen die rebellischen Südstaaten. Er arbeitet sich vom Trommler zum Offizier hinauf und - zum radikalen Kriegsgegner. Das menschliche Leid, das er tagtäglich vor Augen hat, lässt ihn zusehends an der Sinnhaftigkeit der Gemetzel zweifeln. In zahlreichen Erzählungen schildert er immer wieder die Absurdität des Kriegstreibens, das Menschen sogar dazu bringt, im Wahn starren Pflichtbewusstseins ihre eigenen Väter ("Ein Reiter am Himmel"), ihre Kinder und Ehefrauen ("Das Gefecht am Coulter-Pass") oder aus hysterischer Selbstüberschätzung den Bruder zu töten ("Die Spottdrossel"). Mit Begriffen wie "Patriotismus" oder "Frieden" kann Bierce danach nichts mehr anfangen: Frieden sei letztlich eine "Epoche des Betrügens zwischen zwei Epochen des Kriegführens". Und Patriotismus erweise sich nur allzu oft als erste Zuflucht eines Schurken.

The Town Crier
1868 geht Bierce für vorerst vier Jahre nach San Francisco. Dort, im Zeitungs-Mekka des damaligen Amerika, schreibt Bierce seine ersten Artikel und avanciert rasch zur Feuilleton-Berühmtheit. Für die bekannte Tageszeitung "News Letter" leitet Bierce die Kolumne "The Town Crier" - ein Titel, den der junge ungestüme Literat nur allzu wörtlich nimmt. Innerhalb kürzester Zeit legt er sich mit der gesamten Honoratioren-Gemeinschaft der Stadt an. Besonders die kirchlichen Würdenträger sind Zielscheibe seiner Hasstiraden - späte journalistische Rache für eine als peinigend empfundene streng kalvinistische Erziehung. Als ein bekannter Theologie-Professor stirbt, schreibt Bierce einen Nachruf, der an Häme und Bosheit keine Wünsche offen lässt: Sarkastisch gratuliert er dem Verstorbenen dazu, nun endlich seine theologischen Theorien im religiösen "Hauptquartier" einer eingehenden Prüfung unterziehen zu können - ein "Privileg", das Bierce auch für die übrigen Glaubensgenossen des Verschiedenen erbittet. In den christlichen Gemeinden macht sich Bierce damit keine Freunde.

Frauen - und andere Krankheiten
1870 lernt Bierce die junge Mollie Day kennen, Tochter eines wohlhabenden Bergwerksbesitzers, eine ehrgeizige, verwöhnte Dame, die auf dem gesellschaftlichen Parkett mehr zu Hause ist, als dies Bierce lieb sein konnte. Im Dezember 1871 heiraten die beiden. Dies löst keine geringe Verwunderung aus, hatte der scharfzüngige Kolumnist doch in unzähligen Artikeln seine Verachtung über das weibliche Geschlecht verbreitet. Die Art, so heißt es einmal, sei geographisch weit verbreitet - wo immer man suche, treffe man sie an, aber: wo immer man sie antreffe, bereue man es schließlich auch. So etwas wie "Reiz" bescheinigte er den Frauen nur dann, wenn es gelänge, ihnen in ihre Arme zu fallen, "ohne ihnen in die Hände zu fallen". Liebe sei denn auch nichts anderes als eine Krankheit, die wie Karies wüte, die Ehe schließlich die "Befindlichkeit einer Gemeinschaft, die aus einem Herren, einer Herrin und zwei Sklaven" bestehe, also, so die bitter-ironische Rechnung, "insgesamt aus zwei Personen".

Die Jahre 1872 bis 1875 verbringt Bierce mit seiner Frau in London, in dessen literarischen Kreise er rasch Fuß fasst. Er arbeitet für mehrere Tageszeitungen und ist - neben Mark Twain und anderen Berühmtheiten - ein gern gesehener Gast auf den zahlreichen Banketten, die die Zeitungsmagnaten der Fleet Street veranstalten. Wegen seines chronischen Asthmaleidens allerdings muss er die geliebte englische Hauptstadt verlassen. Über die Stationen Bristol, Paris und Bath kehrt das Ehepaar Bierce schließlich im Herbst 1875 an die amerikanische Westküste zurück. Die nächsten Jahre sind durch ein unstetes berufliches Leben geprägt. Bierce übt sich in Tätigkeiten, die so gar nicht zu dem Bild passen wollen, das man sich von dem Zyniker zurecht gelegt hatte. Mal arbeitet er als Angestellter im Münzamt von San Francisco, ein anderes Mal als Manager einer Bergwerksgesellschaft. Abenteuerliches ist freilich auch dabei: Eine Zeit lang begleitet er Geldtransporte - eine zuweilen lebensgefährliche Aufgabe, für die er sich eigens einen Mörder als Leibwächter engagiert.

Nieder mit der Zivilisation
Journalistisch arbeitet er vorerst nur sporadisch, hauptsächlich für die neu gegründete Zeitschrift "Argonaut", deren Herausgeber er wird. Wieder steht ihm eine eigene Rubrik zur Verfügung, die er rasch mit unverwechselbarem Leben erfüllt: Unter der Spalte "Prattle" ("Geschwätz") verfasst er unzählige Artikel, in denen er auf bekannt sarkastisch-bissige Art die Korruption der damaligen politischen Klasse entlarvt. Hier entstehen auch die ersten humoristischen Definitionen, die er später in sein "Wörterbuch des Teufels" aufnehmen sollte. Dazwischen zieht es ihn immer wieder in die Einsamkeit der Berge, weg von der Familie, weg vom Gefühl der Entfremdung, das sich ihm zusehends aufdrängt, wenn er an seine Ehe denkt. Auf langen Spaziergängen entwickelt Bierce eine innige, fast kindlich-naive Naturverbundenheit, die ihn bis ins Alter nicht mehr loslässt. "Nieder mit der Zivilisation! Nichts als die Berge und die Wüste für mich!" - so schreibt er einmal in einem Brief.

Von Affen und Quacksalbern
Erst 1881 steigt er wieder voll ins journalistische Geschäft ein, schreibt nun für die satirische Wochenschrift "Wasp" und - eine große Ehre für den mittlerweile Fünfundvierzigjährigen - für den "Examiner" des großen Zeitungsverlegers W. R. Hearst, mit dem er bis 1909 zusammenarbeitet. Auf Hearsts Drängen verlässt Bierce 1896 die Westküste und geht als Korrespondent nach Washington, wo er bis 1912 für die Zeitung "American" tätig ist. In den neunziger Jahren erscheinen die ersten Sammelbände in Amerika mit Erzählungen Bierces: "Tales of Soldiers and Civilians" ("Erzählungen von Soldaten und Zivilisten", 1891) und "Can such things be?" ("Kann es so etwas geben?", 1893). Die "Fantastic Fables" ("Phantastische Fabeln") folgen 1899. Alle übrigen Geschichten erscheinen erst 1909 im Rahmen seiner "Collected Works" in Buchform. 1906 entschließt sich Bierce schließlich, seine in den letzten fünfundzwanzig Jahren verstreut erschienenen, ironisch-hintergründigen Definitionen in einer Sammelausgabe zu veröffentlichen. "The Cynic`s Word Book", so der Titel, enthält etwa tausend eigenwillige Worterklärungen - von "Affe" ("Klettertier; haust mit Vorlieben auf Stammbäumen") bis "Zechen" ("Mit geziemender Feierlichkeit die Geburt eines wohledlen Kopfschmerzes begehen"), von "Quacksalber" ("Mörder ohne Lizenz") bis "Gesetz" ("Willkür und Lust der Richter"). 1911 wurde das Buch in seinen endgültigen Titel "The Devil`s Dictionary" umbenannt.

Bitterkeit und Misanthropie haben bei Bierce in den Jahren nach 1900 an Intensität gewonnen. Ihre Wurzeln liegen sicher in den frappierenden Kriegserlebnissen der sechziger Jahre. Aber auch persönliche Tragödien prägten das Menschenbild des Schriftstellers. 1889 wird sein ältester, erst sechzehnjähriger Sohn bei einer Auseinandersetzung um ein junges Mädchen getötet, zwei Jahre später verlässt ihn seine Frau, die 1904 die Scheidung einreicht. 1901 schließlich stirbt sein zweiter Sohn - er hatte sich zu Tode getrunken.

Reise ohne Wiederkehr
Das Ende von Ambrose Bierce ist so abenteuerlich und mysteriös, wie viele seiner Schauererzählungen. "Was mich betrifft, so werde ich morgen von hier Abschied nehmen, ohne zu wissen, welcher Bestimmungsort mich erwartet." So schreibt Bierce am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1913 an seine langjährige Vertraute und Sekretärin Carrie Christiansen. Es waren seine letzten Worte. Offenbar stürzte sich der 71jährige in die Wirren des mexikanischen Bürgerkriegs und wurde von Rebellen oder von Regierungstruppen hingerichtet. Genaues weiß keiner. In einem Interview, dass er noch im Oktober einem Zeitungsreporter gab, betonte Bierce, er wolle zu Pferd durch Mexiko reiten, mit dem Schiff weiter nach Südamerika segeln, die Anden überqueren und schließlich von Buenos Aires aus zurückkehren. Kopfschüttelnd wurde das wagemutige Programm zur Kenntnis genommen. Der Frau seines Neffen gegenüber räumte er in einem Brief, datiert wenige Wochen vor seiner Mexiko-Reise, die Möglichkeit ein, das Unternehmen könne gefährlich werden und womöglich damit enden, dass er an eine Wand gestellt und "zu Fetzen geschossen" werde. Offen gesteht er, er halte dies "für eine ganz angenehme Art, aus diesem Leben zu scheiden".

Zahlreiche Mythen und romantische Legenden ranken sich um den rätselhaften Tod des Schriftstellers - spannender Stoff für Schriftstellerkollegen, Sensationsfutter für Leser. Die wohl bekannteste poetische Mutmaßung um das Ende stammt von dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes. In seinem 1986 auf Deutsch erschienenen Roman "Der alte Gringo" schildert er den alten Bierce als resignierten, todessehnsüchtigen Mann, der nach Mexiko geht, um noch einmal die Grenzen seiner selbst zu überschreiten und zugleich die Möglichkeiten auszuloten, seinem von Lebenstragik zerfaserten Bewusstsein zu entrinnen - "ein alter Mann voller Sehnsucht, voller Erinnerungen an Liebe und Lachen", im Grunde ein "alter verbitterter Zyniker", genauso "sentimental wie die von ihm Verhöhnten und Verachteten". Er begegnet einer faszinierenden Frau, der es gelingt, ihm die schonungslose, selbstanklägerische Lebensbeichte zu entlocken: "Mein Name", so erkennt der Bierce in Fuentes` Roman, "war gleichbedeutend mit Kälte … Ich war des Teufels Lehrling, nur hätte ich nicht einmal den Teufel als Lehrmeister anerkannt. Gott noch viel weniger …" Der "alte Gringo" wird schließlich von einem eifersüchtigen, jung-forschen Revolutionsoffizier hinterrücks erschossen. In der neuesten Biografie, verfasst von dem renommierten amerikanischen Militärhistoriker Roy Morris, 1999 im Zürcher Haffmans Verlag erschienen, wird die These vertreten, Bierce habe für die Öffentlichkeit einen soldatisch-ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld inszenieren wollen, in Wirklichkeit aber, lebensmüde und seiner jahrzehntelangen Melancholie überdrüssig, Selbstmord begangen. Nachvollziehbar ist diese Deutung durchaus - hatte Bierce doch schon in seinem "Devil`s Dictionary" von der Langlebigkeit als einer "ungewöhnlichen Ausdehnung der Todesangst" gesprochen.

Der eisige Blick des Zynikers
In seinen Erzählungen schildert Bierce mit dem eisigen Blick des Zynikers menschliche Grenzsituationen, psychische Abgründe, Schicksale an der Schwelle zum Surrealen. Keine Spur von moralischer Perspektive, von Trost oder Sinnhaftigkeit des Erzählten. Nur kalte Nüchternheit, emotionale Leere, radikaler Pessimismus.
Stellvertretend für das immer wiederkehrende Prinzip desillusionierender Realitätsbegegnungen steht seine Erzählung "An Occurrence at Owl Creek Bridge" ("Ein Ereignis an der Owl-Creek-Brücke"), zugleich seine bekannteste und literarisch anerkannteste. Eine Episode aus dem amerikanischen Bürgerkrieg: Ein junger Mann, Zivilist und Südstaatler, steht auf einer Brücke, unter sich den reißenden Fluss, neben sich seine Henker. Er ist der Spionage überführt und soll gehenkt werden. Peyton Farquhar ist ein Idealist, einer, dessen Herz sich für eine Idee entflammen kann, der bereit ist, für eine "gerechte Sache" seine Kräfte zu gebrauchen und sein Leben zu riskieren. Selbst jetzt noch, im Angesicht des unausweichlichen Todes, gibt er sich der Illusion hin, ein Wunder könne geschehen und ihn im letzten Augenblick vor der Katastrophe bewahren. Und wirklich: Der Strick reißt, der Delinquent stürzt in die Fluten, kann sich von seinen Fesseln befreien und schwimmt unter dem wütenden Kugelhagel der Unions-Soldaten hindurch in die Freiheit. Völlig erschöpft steht er Stunden später vor seinem Haus, in dem ihn seine junge schöne Frau und seine Kinder erwarten. Der Augenblick ersehnter Innigkeit ist da, er stürzt in die Arme des geliebten Wesens und - spürt, wie ihn ein alles betäubender Schmerz niederstreckt. "Peyton Farquhar war tot; mit gebrochenem Genick schaukelte sein Leichnam unter dem Gebälk der Owl-Creek-Brücke langsam von einer Seite zur andern." Alles war nur Imagination, sekundenkurze Hoffnungsfetzen, heftig zerplatzende Illsuionsblasen. Schockierend wirkt die frostige Einsilbigkeit, mit der das alles erzählt wird. Gnadenloser kann ein Erzähler mit seinen Lesern nicht umspringen. Wenige dürre Worte zerstören den Wunschtraum einer möglichen "heiligen" Friedfertigkeit mit solcher Nachhaltigkeit, dass einem der Atem gefriert. Die Stille nach dem letzten Satz ist zugleich die schockierte Tonlosigkeit des Lesers, der mit seinem Entsetzen alleine bleibt. Der Stoff wurde übrigens 1962 unter dem Titel "La rivière du hibou" von Robert Enrico verfilmt, ein packender Schwarz-Weiß-Streifen, dem es auf eindringliche Weise gelingt, die Emotionsbrüche des Textes auf die Leinwand zu bannen.

Von Toten und Untoten
Traumphantasien, surreale Überzeichnungen, die mit zuweilen manischer Akribie behandelte Todesthematik, kafkaesk zuweilen, verwirrend fast immer - das und noch mehr scheint ihn mit einem großen Schriftstellerkollegen zu verbinden, der wenige Jahre nach Bierces Geburt in Baltimore gestorben war: mit Edgar Allan Poe. Auch er zeichnete mit schauriger Eindringlichkeit die inneren Abgründe des Menschen, seine existenziellen Ängste, seine sich oft als absurd erweisenden Hoffnungen. Schrecken, ja nacktes Grauen werden bei Poe wie bei Bierce zu beherrschenden psychischen Dispositionen menschlichen Daseins. Die Auswüchse seelischer Deformationen zeigen sich bei Poe nirgend deutlicher als in den Erzählungen über ruhelose Untote und - vor allem - über jene, die für tot gehalten und unwissentlich lebendig begraben wurden. "The Fall of the House of Usher" ("Der Fall des Hauses Usher"), "Ligeia" und "The Premature Burial" ("Das vorzeitige Begräbnis") sind meisterhafte Beispiele dieses Genres.

Bierce zeigt sich fasziniert von der Prosakunst des Landsmannes. Zahlreiche Horrorgeschichten orientieren sich in stofflicher Hinsicht deutlich an Poe, zeigen jedoch ebenso klar die weitgehende stilistische Unabhängigkeit. In seiner kleinen Erzählung "One Summer Night" ("In einer Sommernacht") beispielsweise geht es um einen Scheintoten, der in der Nacht nach seinem Begräbnis von zwei Medizinstudenten und einem Gehilfen wieder ausgegraben wird, freilich nicht, um den lebendig Begrabenen aus seinem engen Gefängnis der Ewigkeit zu befreien, sondern um seine vermeintliche Leiche zu medizinischen Experimenten benutzen zu können. Als sich der befreite "Leichnam" plötzlich aufrichtet, fliehen die jungen Mediziner mit entsetzten Schreien. Am nächsten Morgen präsentiert der nachts zurückgebliebene Gehilfe den schreckensbleichen Studenten den nun wirklich Toten, blutbesudelt und mit eingeschlagenem Kopf: Um sein Honorar doch noch zu erhalten, hat er den von aller Welt für tot gehaltenen Mann mit einem Spatenhieb da hingeschickt, wo man ihn eh schon vermutete. Der wahre Schrecken der Erzählung geht vor allem von der völligen Schrecklosigkeit des Protagonisten aus: Gänzlich unberührt, emotional teilnahmslos registriert der eben im Sarg Erwachte seine aussichtslose Lage und - akzeptiert sie, "ohne zu nörgeln", gar mit "pathologischer Gleichgültigkeit". Mit sarkastischem Humor kommentiert der Erzähler die Situation: Aussichtslos wie die Umstände nun mal seien, müsse sich der Scheintote wenigstens über seine unmittelbare Zukunft keine Gedanken mehr machen.

Dieser ganz eigene Erzählduktus ist es auch, den Bierce so unverkennbar werden ließ und ihn von anderen Meistern des Genres wie Poe unterschied: Düstere Melancholie bei Poe, immer gepaart aber mit der letztendlichen Verdammung des "Bösen", mit einer mystischen "Heilsgewissheit", kalt-bitterer Sarkasmus bei Bierce, bei dem Entzücken und Entsetzen Hand in Hand zu schreiten scheinen - vielleicht der Versuch, dem Schrecken den Stempel der Normalität aufzudrücken und ihn gerade dadurch umso nachhaltiger zu potenzieren.

Auch in der Erzählung "The Boarded Window" ("Das vernagelte Fenster") erweist sich die Überzeugung vom Tod eines geliebten Menschen als fataler Irrtum. Der Farmer Murdoch bereitet seine Frau, die er in seiner Blockhütte im Wald tot aufgefunden hat, für die Beerdigung vor. Sorgfältig wäscht er den Leichnam, kleidet ihn neu ein und bahrt ihn in der Hütte auf, um die Totenwache zu halten. Müdigkeit übermannt ihn und er schläft ein. Von einem grauenvollen Geräusch wird er mitten in der Nacht geweckt: ein Panther ist ins Haus gedrungen und eben dabei, den Leichnam als Beute wegzuschleppen. Murdoch kann das Tier mit einem Gewehrschuss vertreiben. Doch es hinterlässt eine makabre Szenerie: Entsetzt muss der Mann feststellen, dass seine Frau ursprünglich noch gelebt hat und erst durch die Attacken des Panthers, gegen die sie sich noch heftig gewehrt haben musste, getötet wurde. Grausiges Indiz: Zwischen den Zähnen der zerfleischten Frau steckt ein Stück vom Ohr des Tieres. "Ein Mann wie Bierce", so schreibt Elisabeth Schnack im Nachwort zur Erzählsammlung "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen", "besaß die Verachtung des Aristokraten für die Gefühle der großen Menge. Er verfiel nicht der weichlichen Unaufrichtigkeit, die stets happy endings verlangt. Ihm war das Zudecken und Verhüllen unangenehmer Wahrheiten verhasst."

Bierce - Die Spannung bleibt
Bierce literarische Kompetenz ist immer wieder angezweifelt worden, nicht nur von Zeitgenossen, auch von heutigen Interpreten. Mögen die poetisch-ästhetischen Qualitäten der Erzählungen und journalistischen Arbeiten auch etwas hinter den Meisterleistungen eines Edgar Allan Poe, Herman Melville oder Mark Twain zurückstehen - beeindruckend und spannend bleibt die Rigorosität eines einzigartigen Lebens- und Werkentwurfs - auch und gerade für moderne Leser. Das Werk ist eine Endeckungsreise wert - buchen sollte sie, wer seine Faszinationsfähigkeit für Skurriles und Phantastisches, für psychologische Abgründigkeiten und exzessiven Humor noch nicht verloren hat.

Holger Dauer